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Deep Talk mit Vinzent Dorn

Dienstag, Feb 20, 2024 in Pro Cycling

Unsere Reisen in fremde Länder ändern Perspektiven, bringen uns zum Nachdenken und Diskutieren. Das war und ist Teil unsere DNA. Daher schätzen wir es, wenn Sportler Meinungen haben, sich auch trauen kontroverse Gedanken zu äußern. Vinzent Dorn fährt gerade die Tour du Rwanda, ein euphorisierendes Erlebnis aber eben nicht nur. 

Gedanken von Vinzent Dorn:

"Wir fahren mit dem Bus zur ersten Etappe. Ich sehe drei Jungs am Straßenrand stehen, ungefähr in meinem Alter. Sie lächeln uns zu, freuen sich uns zu sehen und rufen irgendetwas in unsere Richtung. Es erfüllt mein Herz mit Freude, Wärme. Ich denke „Warum habe ich so oft so eine schlechte Laune?". Wir fahren weiter.

Auf einmal läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Wir fliegen nach Ruanda, fahren ein Radrennen, werden von dem Land eingeladen und Menschen empfangen uns herzlichst. Gleichzeitig werden die Leute, die uns hier willkommen heißen, die wahren Kosten für unseren Lebensstil tragen. Immer häufiger kommt es in dem kleinen Land zu Unwetterereignissen. Erst letztes Jahr kamen bei einem Unwetter in der nordwestlich gelegenen Region Rubavu durch starke Regenfälle über 130 Menschen ums Leben. Die drei Jungs, die mir gerade lächelnd etwas zugerufen haben, das ich nicht verstanden habe, sie könnten daran zugrunde gehen, dass große Unwetter, durch den Klimawandel, also uns, verursacht, ihre Existenz zerstören. Ich finde das zynisch.

Häufig höre und lese ich, es sei wichtig, Ambiguitätstoleranz, den Umgang mit Andersheit und Widersprüchlichkeit zu erlernen, damit die Gesellschaft zusammenhalte. Die Menschen hier, so ist mein Eindruck, haben diese. Vielleicht weil sie wissen, wie prekär das Leben ist. Vielleicht auch, weil sie es in drei Jahrzehnten der Aufarbeitung des furchtbaren Genozids gelernt haben. Ich weiß es nicht.

Ich muss an die Diskussionen in England denken, Migrant*innen nach Ruanda abzuschieben. Wir Europäer wollen also unsere Probleme mit Andersheit, die Probleme unserer Migratrionsgellschaft lösen, indem wir die Menschen, die nicht in unsere Welt passen, nach Ruanda abzuschieben?

Ist es richtig, dass es dieses Rennen gibt? Einerseits ja. Das Rennen gibt afrikanischen Athleten die Möglichkeit, teilzuhaben an internationalem Sport und eine Chance auf eine Karriere als Profisportler zu bekommen. So funktioniert auch BIKE AID. Wir, Europäer und Afrikaner, sind gemeinsam unterwegs, diskutieren, lachen und lernen voneinander. Gäbe es dieses Rennen nicht, würden die afrikanischen Athleten wohl kaum von Teams entdeckt.

Gleichzeitig werden in dem Land hohe Beträge ausgegeben, die solche Events möglich machen: Im nächsten Jahr wird in Kigali, der Hauptstadt Ruandas die Rad-Weltmeisterschaft stattfinden, die zu einem Rekordbetrag von über 20 Millionen Euro an das Land verkauft worden sein soll. Sportlich gesehen wird es eine unvergessliche WM für alle Teilnehmenden. Ein unglaubliches Erlebnis. Dennoch ist fraglich, ob das Geld an anderer Stelle nicht dringender benötigt würde, in einem Land, in dem 78% der Menschen weniger als 3,65 $ pro Tag zum Leben haben. International gehört Ruanda zu den 10 Ländern mit der höchsten Armutsquote.

Inzwischen sind wir im Zielort der vierten Etappe angekommen. Unser Hotel ist weniger als einen Kilometer von der Stadt Goma in der DR Kongo entfernt. In dieser Stadt platzen derzeit die Notunterkünfte aus allen Nähten. Hunderttausende Menschen sind auf der Flucht vor Kämpfen zwischen Milizen und Regierungstruppen. Tausende Kinder wurden von den bewaffneten Gruppen entführt und als Kindersoldaten missbraucht. Die humanitäre Lage ist katastrophal. Es gibt kaum sauberes Wasser, Krankheiten nehmen zu. Der Stellvertretende Generalsekretär der vereinten Nationen für Friedenssicherung Jean-Pierre Lacroix spricht von einer besorgniserregenden Situation.

Im Ziel der Etappe frage ich unseren Mechaniker Sean, der ein Radgeschäft in Kigali betreibt, ob es möglich sei, dass die Kämpfe auch über die Grenze überschwappen. Er antwortet: „If they go over the border, they will be shot. Everyone who crosses the border will be shot!“.

800 Meter von dieser Grenze entfernt sitze ich in meinem Hotelzimmer und versuche mich von den Strapazen der heutigen Etappe zu erholen. Wir bekommen am Buffet nur ein Getränk pro
Person, was einigen Fahrern nicht passt. Es fällt so leicht, wegzuschauen von dem Leid, selbst wenn es nur wenige Kilometer entfernt von einem stattfindet. Als ich Sean später frage, wie es überhaupt möglich ist, ein solch großes Event in einem so großen Gebiet auszutragen antwortet er: „The only thing the weaponed groups like M23 care about is money. Some little pieces in your phone come from this area. That’s why they are trying to control it. If they do something to you, they know it will cost them a lot of money. If I go over there, there’s a chance they kill me. Because of my color.”

Die Reise bringt mich zum Nachdenken. Ich weiß nicht, was ich von hier mitnehmen soll. Ist es das positive Gefühl, die wunderbare Menschlichkeit? Oder wäre das zu oberflächlich?

Ich kann jeden verstehen, der hier neben mir an der Startlinie steht und sich nur auf das Rennen konzentriert. Wir wollen Rad fahren. Wir verfolgen unseren Traum. Selbst diejenigen, die aus meiner Sicht einen fragwürdigen Staat oder Sponsor präsentieren.

Gibt es ein richtiges Leben im Falschen? Sind die Sportler schuld oder ist es das System?

Ich wünsche mir, dass ich nicht der einzige bin, den dieses Rennen zum Nachdenken anregt. Ich wünsche mir, dass wir alle es schaffen, etwas Positivität im Flugzeug mitzunehmen nach Europa. Und ich wünsche mir auch, dass wir versuchen, nicht immer nur Öl auf den Ketten dieses Systems zu sein, sondern auch mal Sand.

Aus dem Garten des Hotels tönt leise der Song „Tears in Heaven“ von Eric Clapton durchs Fenster. „Beyond the door, there’s peace. I’m sure. And I know there will be no more tears in heaven”. Ich hoffe für die Menschen, die der Auseinandersetzung zum Opfer fielen, dass er recht hat."