Azzedine Lagab – bis vor wenigen Wochen war dieser Name vielen noch nicht bekannt. Doch aufgrund eines unschönen Vorfalls bei den olympischen Spielen in Tokio ging sein Name „viral“. Seitdem wurde Azzedine Lagab von vielen Journalisten kontaktiert. Grund hierfür waren leider nur selten seine sportlichen Leistungen, obwohl der 34-Jährige seit Jahren zu den erfolgreichsten afrikanischen Radsportlern gehört .Elf algerische Meistertitel sprechen für sich. Vielmehr ging es jedoch darum, ein mediales Strohfeuer weiter zu befeuern.
Nachdem die Radsportcommunity den Vorfall zum Anlass nahm, sich zum Thema Rassismus zu äußern, wurden auch wir aufgefordert, Stellung zu beziehen. Doch „einfach auf einen populistischen Zug aufzuspringen, der gerade am Rollen ist, das wollten wir nicht, sondern uns in Ruhe unsere Gedanken machen“, äußerte sich Timo Schäfer.
Statt "nur" ein Posting abzusetzen, kontaktierte Matthias Schnapka Lagab um ihm den Vorschlag zu unterbreiten, die Deutschland Tour im BIKE AID Trikot zu fahren. „Ich hätte mir vorstellen können, dass er meine Kontaktaufnahme als plump empfinden würde. Ich schlug ihm vor, mit BIKE AID die Deutschland Tour zu fahren und bat ihn, seine ehrliche Empfindung in diesem Moment dazu mitzuteilen. Azzedine sagte zu und erzählte mir seine Geschichte, wodurch ich einen Sportler aus Afrika kennenlernte, der viel erlebt hat, seinen eigenen Weg fand und viel an junge afrikanische Sportler weitergeben kann“, so Matthias Schnapka.
Als Azzedine Lagab jung war, träumte er von einem Profivertrag in Europa. Ein Traum, der nie in Erfüllung ging. Er fuhr bei Weltmeisterschaften, startete 2012 bereits bei Olympia in London und zuletzt 2021 in Tokio. Westliche Journalisten haben sich bislang nicht für ihn interessiert, obwohl er viel Spannendes zu erzählen hat. Über seinen schwierigen Weg als Sportler, wie er als junger Fahrer verzweifelt darum rang, einen Platz in einem Team zu bekommen und über all die Hindernisse, die er und andere afrikanische Athleten überwinden müssen. Umso trauriger macht es ihn, dass nicht seine sportlichen Leistungen, sondern eine diskriminierende Äußerung dazu führte, dass die Presse doch noch Notiz von ihm nahm.
2013 fuhr BIKE AID bei der Algerien Rundfahrt mit und erlebte Tausende Zuschauer entlang der Strecke im tiefsten Hinterland. Auch auf Azzedine Lagab sind wir dort getroffen. Begegnet waren wir ihm schon bei vielen Rennen in Afrika, er fiel nicht zuletzt dadurch auf, dass er zu seiner muslimischen Religion stand und so selbst bei 40 Grad mit Knielingen fuhr. Auf uns wirkte das befremdlich und ja, man amüsierte sich über das ungewöhnliche Auftreten.
Dabei widerspricht dieses Verhalten unserer Philosophie: Wir möchten Sportler aus Afrika fördern, ihnen Chancen ermöglichen, die sie zu selten bekommen. Wir sprechen über Themen wie Rassismus oder soziale Ungerechtigkeit. Wir bereisen Länder, die wir selbst nicht kennen, um über die dortige Begeisterung für den Radsport zu berichten, um unsere eigenen Vorurteile zu überwinden, und um mit unseren Berichten andere neugierig auf fremde Kulturen und Menschen zu machen. Wir stehen für Begegnung statt Abgrenzung.
„Spätestens nach diesem Vorfall hat sich mein bisheriges Verhalten gegenüber Azzedine Lagab falsch angefühlt. Ich überwand meine Unsicherheit und entschloss mich, ihn zu kontaktieren. Mit der Deutschland Tour hat Azzedine nun die Chance, seine Lebensgeschichte zu erzählen, einen weiteren Schritt als Sportler zu gehen und damit auch den jungen Fahrern in seiner Heimat weiter Mut zu machen, für ihren eigenen Weg zu kämpfen“, sagt Matthias Schnapka.
Ein mediales Strohfeuer, ein Social Media Shitstorm gegen einzelne Personen, die an den Pranger gestellt werden, sorgen für kurzfristige Aufmerksamkeit. Sie verfehlen jedoch ein wichtiges Ziel: Eine ernsthafte Debatte was Rassismus ist, dass sich kaum jemand von stereotypischen Denkmuster freisprechen kann und, dass gegen Rassismus vor allem Begegnung und Offenheit helfen. Und genau für diese Begegnung im Radsport setzt sich BIKE AID ein: Begegnungen zwischen Menschen, bei denen Grenzen, Vorurteile und Nationalitäten überwunden werden.
„Azzedine Lagab in unser Team aufzunehmen, und das während der laufenden Saison für eine so wichtige Rundfahrt war natürlich keine einfache Entscheidung. Ich denke, wenn wir als Team dazu stehen was wir vorgeben zu sein, dann müssen wir uns dieser Sache annehmen und uns selbst hinterfragen. Viele fragten, ob wir uns sicher sind, dass das die richtige Entscheidung war. Nein, das sind wir nicht. Allerdings können wir hoffen, dass das negative Ereignis der Anstoß zu etwas Positivem wird“, so Matthias Schnapka.